Pfr. Walter Lüssi

Generalsekretär der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, Präsident Plusbildung, Präsident Oikosnet Europe

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Persönlich: Meine erste Jazz-Impfung geschah in Kinder- und Jugendjahren. Geimpft wurde ich mit einer eher seichten, populären Form des Jazz, mit dem Dixieland und dem amerikanischen Jazz im Stile New Orleans. Ich habe als junger Gymnasiast die Chris Barber's Jazzband, die Dutsch Swing College Band und Mister Acker Bilk auf der Bühne erlebt, habe zu Hause Stunden lang ihre Schallplatten gehört und mich als Klarinettist mit klassischer Ausbildung kräftig selber im Dixieland vergnügt. Geschwärmt habe ich vor allem von Benny Goodman. Ich erinnere mich, dass ich einmal endlos den Anfang von Gershwins Rhapsody in Blue geübt habe, die mit einem Glissando der Klarinette über mehr als eine Oktave hinweg beginnt. Die Reaktion meiner genervten Eltern blieb nicht aus: Sie stellten mich vor eine Alternative: Wir bleiben hier, und du gehst mit deiner quälenden Überei irgendwohin. Oder – jetzt in einem leicht freundlicheren Ton – oder spiel doch wieder einmal Mozarts Klarinettenkonzert in A-Dur, aber versuch einmal alles pianissimo! Dank dieser Reaktion meiner Eltern habe ich viel gelernt. Ich habe etwas begriffen über falsche Alternativen. Und ich habe bereits damals intuitiv gespürt, was ich erst dieses Jahr beim Londoner Publizisten David Goodhart in seinem Buch "The Road to Somewhere" gelesen habe. Nämlich dass es eben die Somewheres gibt, die an einem ganz bestimmten Ort ihre Wurzeln geschlagen haben und ihr Territorium – z. B. gegen die Ruhestörung eines jugendlichen Klarinettisten – verteidigen. Und dass es die Anywheres gibt, die mobil sind oder auch sein müssen und die ihren Platz für ihre Performance vornehmlich in anderen Sphären als die des Territorialen finden.

Damit wären wir beim Thema und bei der reformierten Kirche. Der Sprung von dieser persönlichen Erfahrung ist nicht weit: Die Anywheres und die Somewheres prägen auch unsere reformierte Zürcher Kirche. Neben die traditionell territorial orientieren Mitglieder kommen – wenn sie denn noch kommen oder sich mit Kirche verknüpfen lassen – die Anywheres, die mobil, urban und liberal sind. Wir sind daran, in unserer Kirche deutlicher zu erkennen, dass unsere traditionelle Form von Kirchesein, die sich in territorialen Kirchgemeinden organisiert, im Sinne einer Mixed Economy der Ergänzung durch andere Formen von Kirche braucht. Daran arbeiten wir. Dabei ist aber auch klar, dass neue, ich möchte sagen Anywheres-Formen von Kirche, nicht topdown geschaffen und organisiert werden können. Aber wir können unsere Wahrnehmung schärfen, anstossen, aufnehmen, fördern, mit den Verantwortlichen in Kirchgemeinden daran arbeiten, dass Räume entstehen und bespielt werden können und für neue Kirchenorte und neue Formen von Kirchesein schliesslich auch Ressourcen zur Verfügung stehen.

Bluechurch geht darüber hinaus und ist von Anfang an als internationales Netzwerk angelegt. Auch das passt eigentlich gut zu uns Reformierten, die sich gerade mit der Zürcher Reformation vor 500 Jahren einiges einbilden bezüglich deren zumindest europäischen Ausstrahlung. Aber die Einbildung lässt uns manchmal schnell vergessen, dass unsere bottomup organisierte und territorial begrenzte Kirchenlandschaft eine Tendenz zum Provinziellen hat. Und diese Tendenz wird verschärft in einer Zeit, in der wir auf Prognosen aufgrund empirischer Untersuchungen – die Reformierten werden kleiner, älter, ärmer – nur mit ängstlicher Besitzstandwahrung reagieren.

Die Reformierte Kirche des Kantons Zürich hat also mehrfachen Grund, sich an der Entstehung von Bluchurch zu beteiligen. Dabei besteht unsere Investition nicht in erster Linie in einer Anschubfinanzierung, welche zur Schaffung einer virtuellen Plattform geführt hat, die heute vorgestellt wird. Unsere Investition besteht hauptsächlich in einer Person, darin dass Matthias Krieg, einer der Hauptinitianten von Bluechurch als Theologischer Sekretär unserer Kirchenleitung, den Raum bekam oder gewissermassen in Ruhe gelassen wurde, um seine Kreativität, seine Kirchennähe und seine Jazznähe ins Spiel zu bringen. Ich danke ihm für dieses Engagement herzlich und auch allen weiteren Beteiligten. Und ich wünsche Bluechurch einen guten Start und weiterhin viel Talent für mannigfache Improvisationen – somewhere and anywhere.

Zürich, am 16. Dezember 2017
Rede zur Vernissage der Homepage in der Kunsthalle Zürich