Juni 2018 / zeitzeichen / Berlin
Ein außergewöhnliches Instrument wie die Orgel wird und muss eine Zukunft haben. Davon ist der Organist Daniel Stickan, der sich für eine „neue Kirchenmusik“ einsetzt, überzeugt. Vor der Zukunft jedoch komme der Anschluss an die Gegenwart, die eben nicht nur der Tradition verpflichtet sein dürfe.
Nimmt man das Editorial der Fachzeitschrift Ars Organi als Maßstab, so ist es um die Orgelkultur schlecht bestellt. Immer wieder liest man dort Klagelieder auf die geringe Wertschätzung der Orgel im gegenwärtigen Konzert- und Gottesdienst-leben. Die Königin der Instrumente werde in der Liturgie durch unwürdige Gegner wie Gitarre und E-Piano von ihrem Thron verdrängt. Orgelkonzerte seien schlecht besucht. Der große Schatz der Orgelkunst – eine unvergleichliche Kulturgeschich-te – sei bedroht. Ein Kirchenmusiker einer norddeutschen Hauptkirchengemeinde sah sich gar genötigt, eine Anweisung für Brautpaare zu entwerfen. Diese sollte festlegen, dass am Anfang und Ende jeder Trauung die große Orgel spielt. Und sie sollte verhindern, dass sich Brautpaare ihre Lieblingsmelodien der Popmusik auf der Orgel wünschen. Geht es der Orgel wirklich so schlecht? Neben den kulturpessimistischen inschätzungen vieler Kirchenmusiker gibt es auch ganz konkrete Sorgen: Es mangelt am Nachwuchs. Die Bewerberzahlen für das Studium der Kirchenmusik gehen bedrohlich zurück. Da der Berufsstand Kirchenmusik noch immer zentral mit der Orgel verknüpft ist, lässt sich feststellen: Das Interesse nimmt be-drohlich ab.
In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts erlebte die Orgel noch einen ungeheuren Aufschwung. Sie schwamm auf dem Erfolg der historischen Aufführungspraxis. Diese konzentrierte sich bis in die Siebzigerjahre hinein fast ausschließ-lich auf die Musik bis zur Barockzeit. Eine Blütezeit der Orgelmusik, für die es ein enormes Repertoire neu zu entdecken galt. Orgelbauer wie Jürgen Ahrend begeisterten eine enthusiastische Fangemeinde mit herausragenden Restaurierungsprojek-ten historischer Orgeln. Orgelexperten wie Harald Vogel wurden zu Wegbereitern historischer Aufführungspraxis im Orgel-spiel und zu Popstars der Szene. Der Originalklang alter Orgeln, zurückverfolgt bis in die Gotik, faszinierte ein großes Publi-kum.
Diese Blütezeit ist offensichtlich vorüber. Die starke Konzentration auf die Vergangenheit hat zwar einen enormen Schatz hervorgebracht. Die hauptsächliche Konzentration auf das Bewahren dieses Schatzes jedoch verstärkt den zunehmenden Bedeutungsverlust der Orgel. Sie verliert den Anschluss an die Gegenwart.
Als Inspiration lohnt ein Blick in die Geschichte. Der französische Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll ist heute noch einer der klangvollsten Namen im Orgelbau der französischen Romantik. Viele seiner Erfindungen und Klangideale setzen noch im-mer Maßstäbe. Als jedoch der junge Cavaillé-Coll 1833 nach Paris kam, lag die Orgelwelt buchstäblich in Trümmern. Viele Instrumente waren durch die Französische Revolution zerstört. Die noch erhaltenen Instrumente entsprachen nicht mehr dem Zeitgeschmack. Der junge Orgelbauer ahnte, was der Orgel blühte: Er hatte den Untergang des Cembalos miterlebt. Als Gegenentwurf entwickelte Cavaillé-Coll eine neue Klangästhetik, die sich am musikalischen Puls der Zeit orientierte. DieseVision hatte einen durchschlagenden Erfolg und die Orgel war wieder en vogue.
Brauchen wir einen neuen Cavaillé-Coll? Ich bezweifle, dass sich Geschichte an diesem Punkt wiederholen lässt. Die Orgel zählt zu den ältesten Instrumenten, und die Möglichkeiten der Klangerzeugung dieses Instrumentes wurden in vielfacher Hinsicht und über Jahrhunderte erforscht. Man kann überraschende Neuerungen nie ausschließen. Dennoch ist fraglich, ob solche Erfindungen der Orgel allein zu neuer Blüte verhelfen. Auch der Erfolg von Cavaillé-Coll ist nicht allein auf eine neue Bauweise zurückzuführen. Wesentlich war, dass eine ganze Schule des Orgelspiels entstand, und ein enormes Repertoire an Meisterwerken für diese neuen Orgeln geschrieben wurde. Von der Auswirkungen der französischen Improvisationskunst einmal ganz zu schweigen.
Im Amphitheater
„Die Orgel hat ausgedient!“ titelte vor einigen Jahren eine deutsche Zeitung. Doch einfach „ersetzen“ lässt sich die Orgel als das zentrale Instrument von Kirchenräumen nicht. In einer einzigartigen Wechselwirkung haben sich Instrument und Raum über die Jahrhunderte gegenseitig geprägt. In ihren profanen Ursprüngen hatte die Orgel noch die öffentliche Hinrichtung von Christen im Amphitheater begleitet. Dann zog sie nach und in die Kirchen ein und wurde zu einem sakralen Instrument. Sakral ist hier natürlich nicht im Sinne einer „Heiligsprechung“ gemeint. Aber die Jahrhunderte des kultischen Kontextes gingen nicht spurlos vorbei. Akustisch gesehen entwickelte sich die Orgel zu einem Instrument, welches hervorragend für die Beschallung großer Kirchen geeignet ist: mit nur einem Spieler lässt sich eine Klangfülle erzeugen, die auch den Ge-meindegesang von hunderten Menschen problemlos begleitet. Durch ihre enorme Größe kann sie Klänge aus der Nähe und aus weitester Ferne simulieren. Die Breite ihrer Farbpalette macht sie zu einem Orchester. Gibt es ein geeigneteres Instru-ment für die Klangwelt des Kirchraums? Nun hat die Orgel aber offensichtlich ein Popularitätsproblem. Da viele Orgelfans das Instrument, seine Geschichte und sein Repertoire weiterhin für unübertroffen halten, meinen sie, es handle sich um ein Vermittlungsproblem. Deshalb gibt es Orgelentdeckertage, Gesprächskonzerte, Orgelführungen und ähnliche Veranstal-tungsformate. Das ist alles nützlich und gut, aber es wird das Popularitätsproblem nicht nachhaltig lösen. Das kann nur ge-lingen, indem die Orgelszene ihren rückwärtsgewandten kulturideologischen Habitus zumindest in Teilen ablegt.
Welche Rolle spielt die Orgel überhaupt noch in der Musik der Gegenwart? Wie kommt sie vor in der zeitgenössischen Klas-sik, dem Jazz, dem Rock und der Popmusik? Rock und Pop scheinen mit der Orgel unvereinbar. Welche Rockband beschäf-tigt schon einen Organisten? Allein durch die Bindung an den Raum scheint die Orgel gar nicht anschlussfähig an Popkultur. Aber ist Popmusik auf der Kirchenorgel ausgeschlossen? Für mich war es eine interessante Überraschung zu sehen, welch zentrale Bedeutung die Orgel für den Soundtrack des Hollywood-Blockbuster „Interstellar“ hat. Und nimmt man Youtube als Indikator für die Popularität gewisser Phänomene, so stellt man überrascht fest: Videos, in denen Popmusik auf der Kir-chenorgel gespielt wird, erfreuen sich großer Beliebtheit. Mittlerweile gestalten Organisten ganze Konzertprogramme zum Thema: „Die Orgel rockt!“ Hier ist es natürlich leicht, kulturideologisch zu kontern: Weltliche Lieder simpelster Natur auf einem sakralen Instrument? Texte, die mit Gott so gar nichts zu tun haben – das soll die Zukunft sein? Doch diese Argumen-tation ist ein wenig wohlfeil. Nehmen wir Jan Pieterszoon Sweelinck, die zentrale Figur in der Orgelszene der Renaissance. Er spielte regelmäßig in der Amsterdamer Oude Kerk Musiken, bei denen er auch über weltliche Lieder improvisierte. Eine Folge von Variationen über den Gassenhauer „Unter der Linden grüne“ ist überliefert und gehört heute zum Standardreper-toire. Der Liedtext ist jedoch nun gar allzu weltlich: Hier verliert ein junges Mädchen in der freien Natur ihre Jungfräulichkeit. Und um nur eine weitere Quelle aus dem Tirol des 19. Jahrhunderts zu nennen: „... und der Organist will mit seinen Orgel-präludien gar nicht enden, spielt auch mitunter ein bekanntes Stücklein aus einer Oper oder gar eine Polka. Zwischen Credo und Sanctus ist ein lustiger Hopser fast Verpflichtung.“
Spielhaltung der Freiheit
Heute scheint sich die Orgelszene bewusst von solchen Vorgängen abgrenzen zu wollen. Dabei steht und fällt die Qualität der entstehenden Musik mit der Improvisations- und Arrangierkunst des Organisten. So wie Sweelinck höchst kunstvolle Variationen aus einfachen Volksliedern entwickelt, könnten auch heute neue Spielwiesen qualitätsvoller Musiken in der Popmusik entstehen.
Über den Jazz ist Ähnliches zu sagen. Das Hauptproblem ist hier, den Jazz als Stil zu missverstehen. Das ist er nicht. Er ist eine Spielhaltung der Freiheit. So hilft es auch nicht, Jazz als Stil auf die Kirchenorgel zu übertragen und auf ihr „Take Five“ wie auf einer Hammond-Orgel zu spielen. Was die Hammond-Orgel kann, kann die Kirchenorgel noch lange nicht. Geht man jedoch von der ungeheuren Vielfalt der Klänge und Spieltechniken der Kirchenorgeln aus, so lassen sich eigenständige Jazz-Orgelwelten entwickeln. Und diese ließen sich in ihrer Eigenständigkeit wiederum unmöglich auf eine Hammond-Orgel übertragen. Der Jazz besitzt dabei zusätzlich die wunderbare Eigenschaft, kulturelle und stilistische Grenzen zu sprengen. Er ist eine globale Musik mit einer spirituellen Geschichte, die zu einer theologisch fruchtbaren Vision von Kirchenmusik taugt. Bemerkenswert ist, dass schon in den Siebzigerjahren Musiker wie Keith Jarrett solche Experimente unternommen haben. Und auch heute finden sich immer wieder spannende Veröffentlichungen von Jazzpianistenund Organisten. In der Kirchenmusik jedoch konnte sich dieses Genre bisher nicht etablieren. Das internationale Netzwerk „Bluechurch“ mit Sitz in der Schweiz zeigt aber, wie vital diese Szene in ihrer Nische schon agiert.
Über die zeitgenössische Musik für Kirchenorgel ließen sich eigene Artikel schreiben. Der Umfang des Buches Neue Orgel-musik von Daniela Philippi offenbart die kaum zu überschauende Masse an Kompositionen. Hier finden sich viele der gro- ssen Namen des 20. Jahrhunderts, interessanterweise jedoch meist nur mit wenigen Werken. Es gibt in diesem Bereich eine hoch professionalisierte Szene von Komponisten und spezialisierten Interpreten. Die Komplexität, Unzugänglichkeit und oft extrem hohen Schwierigkeitsgrade insbesondere der deutschsprachigen Avantgarde führt jedoch zwangsläufig zu einem Nischendasein. So braucht man nur ein paar Programme klassischer Orgelkonzerte durchzusehen: Es finden sich kaum Werke aus der Zeit nach 1950. Mir ist die Vereinfachung dieses Urteils vollkommen bewusst, doch sehe ich hier gerade ein zentrales Problem der zeitgenössischen Kirchenmusik in Deutschland. Mit Blick etwa auf die vitale moderne skandinavische Chormusik sieht man dagegen schnell: Auch der musikalische Breitensport kann zeitgenössisch sein. Es braucht gewisse Konsolidierungsprozesse, damit so etwas wie Kultur entstehen kann.
Ein solch außergewöhnliches Instrument wie die Orgel wird und muss eine Zukunft haben. Vor der Zukunft jedoch kommt der Anschluss an die Gegenwart. Da diese nicht nur aus Tradition besteht, sondern sich fortentwickelt, lautet das Wagnis: weniger Ideologie – mehr Experiment. Dieses Wagnis muss in der Ausbildung beginnen: interdisziplinär und mit stilistischer Offenheit auf Grundlage einer großen Tradition. Qualitätsbewusst, traditionsbewusst aber auch mit Forschungsdrang und Neugier auf Gottes wehenden Geist. Um mit dem hoffnungsvollen Titel eines Jazzstandards zu schließen: „The best is yet to come!“.
Daniel Stickan
bluechurch dankt Stephan Kosch, Redakteur von zeitzeichen, für die Freigabe des Aufsatzes.