Improvisation im Jazzgottesdienst - Kleine Typologie
Erfahrungen in Workshops am 15. und 18. Dezember 2017 in Zürich
Grundlagen
- Was für jeden Gottesdienst gilt, soll auch für den Jazzgottesdienst gelten: Die stabilen Sprachen von Architektur und Gestaltung gehen mit den fluiden Sprachen von Wort und Klang eine möglichst kongeniale Verbindung ein.
- Negativ bedeutet dies, dass der Jazzgottesdienst nicht nur eine andere Expressivität des Klangs aufweist, sondern auch die drei anderen Sprachen, nämlich Wort, Gestaltung und Architektur, verändert.
- Der Jazzgottesdienst hat eine lebensweltlich orientierte Fokussierung auf Menschen, die Jazz nicht als einen Musikstil verstehen, der wie alle Stile auswechselbar oder ersetzbar ist, sondern als eine Musiksprache und Musizierhaltung, in der sich Existenzielles ausdrückt.
- Negativ bedeutet dies, dass Jazzkirche nicht durch Jazzkonzerte in Kirchen oder konzertante Jazzelemente in Gottesdiensten entsteht, sondern wie jede Kirche durch Beziehung, Beteiligung und Vergemeinschaftung.
- Die zeitlose Genotypik gottesdienstlichen Handelns findet im Jazzgottesdienst, der als Phänomen erst im Werden ist, nach und nach zu seiner zeitbedingten Phänotypik.
- Negativ bedeutet dies, dass ein Auswechseln von Instrumenten und Literaturen noch keinen Jazzgottesdienst ergibt, sondern alle Elemente des Gottesdienstes unter der Frage der Kongenialität zu einer profilierenden Phänotypik finden sollen.
Profilierung
- Improvisation ist Herzblut und Herzschlag des Jazz. Die spirituelle Seite der Improvisation heisst Geistesgegenwart. Das Ergebnis der Improvisation ist ein unwiederholbares Unikat. Die spirituelle Seite des Unikats heisst Ereignis.
- Nicht dass der Jazzmusiker im Moment der Improvisation die Musik erfinden würde, nein, ausgelöst durch ein Minimum von Abmachung entwickelt er aus dem Fundus seines handwerklichen Könnens und seiner musikalischen Erfahrung ein hic et nunc neues Stück. Aus Kompetenz und Performanz schafft seine Improvisation einen persönlichen musikalischen Ausdruck, der mit dem Verhallen des letzten Tons unwiederholbar wieder verklingt.
- Die gleiche Struktur soll das Tun des Theologen prägen: Nicht dass er im Moment der Improvisation die Theologie erfinden würde, nein, ausgelöst durch ein Minimum von Abmachung entwickelt auch er aus Können und Erfahrung eine neue Verkündigung, auch sie persönlich geprägt, auch sie unwiederholbar verklingend.
- Am besten geschieht das Improvisieren von Musikerin und Theologin im Dialog. Dabei illustrieren beide einander nicht, sondern machen jeweils eigenständige Aussagen, und selbst die Fermate ist eine solche.
Muster der Lesung
- Analytisches und Kontemplatives Lesen: Ein lyrischer Text der Bibel wird von einer Person gelesen, während Musiker mit Strukturen der Minimal-Music einen Klangteppich auslegen, der sich nur in kleinen Margen verändert. Der Text wird auf den Teppich gelegt. Beim Lesen werden Wörter und Sätze wiederholt, Betonungen und Wörterfolgen verändert, Aussagen in Fragen und Fragen in Antworten verwandelt. Zum Wortbestand wird aber nichts hinzugefügt. Im Dialog mit der Musik verändern sich Intensität, Lautstärke und Geschwindigkeit. Geeignet sind kurze Gedichte (zB. Ps 120-131; Lk 1,46a-55).
- Assoziatives Verstehen: Im Mittelpunkt steht ein Satz, der im Bibeltext entweder vorkommt oder ihm sehr nahekommt. Der Satz wird leitmotivisch wiederholt, während zwischen ihm nur einzelne Wörter fallen. Satz und Wörter werden in Pausen der Musik hineingesagt, so dass eine dichte Abfolge aus Wörtern und Tönen entsteht. Den Abschluss bildet ein überraschender anderer Satz der Bibel oder ein biblisches Bild. – Ein Beispiel: Der Satz Seht, was ihr seid! Seid was ihr seht! als wiederholtes Leitmotiv (nach 1Kor 12,12-27), dazwischen einmalig Assoziationen wie Nasenrücken, Oberschenkel, Lachfältchen, Dünndarm ... und als überraschender Schluss Ihr seid der Leib des Christus, als einzelne aber Glieder. (1Kor 12,27) Ein anderes Beispiel: Der Satz Adam, wo bist du? dient als Leitmotiv (Gen 3,9), zwischen dessen Rezitation fallen Antworten wie abwesend, versteckt, bei der Arbeit, in den Ferien ... und zum Schluss überraschend der Satz Du hast Adam wenig geringer gemacht als Gott. (Ps 8,6a)
Muster der Verkündigung
- Narratives Erinnern: Die Abmachungen zwischen Prediger und Musikanten betreffen erstens ein starkes Erlebnis, von dem er viel zu erzählen weiss, zweitens einen Bibeltext von 1-3 Versen, mit dem er das Erlebte versteht und den er in Teilen oder zur Gänze immer wieder zitiert, und drittens eine einfache und klare Botschaft, die er am Schluss sagt, aber nicht weiter interpretiert. Die Musikanten sind es, die Erlebnis, Text und Botschaft interpretieren. – Beispielsweise das Erlebnis einer Burg an der Küste von Ghana, wo Schwarze in dunklen Verliessen für den Sklavenhandel ausgesucht und aufbewahrt wurden, während über den Gewölben die Weissen ihre Kapelle hatten, an deren Stirnwand der Vers Ps 132,14 kalligraphisch aufgepinselt ist. Es ist klar, dass Predigende nur eigene starke Erlebnisse für narratives Erinnern nehmen können.
- Dramatisierte Szene: Wenn der Gottesdienst von einer Gruppe gestaltet wird, stellt sie ein kleines Drehbuch aus 6-8 Schritten her, zu denen auch die Lesung der biblischen Szene gehört. Der Jazz ist selbst ein Protagonist im kleinen Drama. – So die Dornbuschszene (Ex 3,1-15), aus der drei Motive dramatisiert werden: die Selbstaussage Ich bin (3,14), die Frage Warum verbrennt der Dornbusch nicht? (3,3) und der nur für den Augenblick des Ereignisses heilige Boden (3,5). Aussagen wie Ich bin im Stress! oder Ich bin überall und nirgends! folgen sich immer dichter, während die Gruppe nach vorn kommt. Dort folgt mehrfach und nun mit Echos und Aussagen der Musik die Warum-Frage (3,3), nach ihr die Lesung und eine Kurzauslegung, beide im Gespräch mit den Musikern.
- Call and Response: Dies ist ein Element, das seine Ursprünge in kommunitären Worksongs und Circle Songs und seit den ersten Feldkirchen Einzug in afroamerikanische Liturgien fand. Ein prominentes Beispiel dieses partizipativen Musters ist 1963 in Washington vor dem Lincoln Memorial entstanden, und zwar spontan, als Martin Luther King eigentlich den Teil mit seinem Dream weglassen wollte, Mahalia Jackson ihm aber vernehmlich dazwischenfuhr und zurief: Tell’em about the dream, Martin! Die Szene ist heute einfach im Netz zu sehen. – Entsprechend lässt sich nach Nennung eines aktuellen Themas und einiger Fakten dazu, z.B. Gleichberechtigung der Geschlechter oder Gastfreundschaft mit Fremden, die Aufforderung Tell us about your dreams! wiederholt rufen. Aus der Gemeinde kommen die Antworten, und die Musik quittiert sie jeweils einzeln.
Muster der Meditation
- Bildinterpretation: Ein Bild der Kunst oder eine Photographie ist eingeblendet, und der Jazz tritt in Kommunikation mit dem, was alle sehen.
- Textinterpretation: Ein Gedicht oder ein Aphorismus ist über den Beamer für alle zu lesen und wird mit Jazzimprovisation beantwortet. Auch hier kann wie bei der analytischen Textlesung eine minimalistisch konzipierte Musik den meditativen Aspekt vertiefen und im Flow-Effekt die Zeitlichkeit vergessen lassen.
Muster des Abendmahls
- Jamsession: Alle, die als Laien Jazz auf tragbaren Instrumenten spielen, sind aufgefordert, diese in den Gottesdienst mitzubringen. Die Einsetzung des Abendmahls erfolgt mit den bekannten liturgischen Texten. Die Verteilung aber ist ambulant im eigentlichen Sinn. Alle, ob mit oder ohne Instrument, wandeln in der Kirche auf und ab, auch diejenigen, die Brot und Wein bereithalten. Wer ein Instrument hat, stimmt in den einfachen Standard, den Jazzprofis vorgegeben haben, improvisierend ein. Alle können sich rhythmisch bewegen oder den Rhythmus mit Geräuschen aufnehmen. Man kann Brot und Wein dort nehmen, wo sie einem begegnen, auch mehrfach.
Muster des Betens
- Fürbitte: Drei Vorbeter eröffnen je eine Gebetskette mit der Setzung eines Themas. Aus der Gemeinde fallen dazu thematisch parallele Bitten. Musik gibt jeder Bitte ein Echo. Wenn die Kette endet, folgt nach der Bitte des Vorbeters Herr, erbarme dich! der gemeinsame Gesang eines Kyrie, das auf dem Liedblatt vorgegeben ist.
- Segen: Dieselben drei Vorbeter teilen sich den Aaronitischen Segen auf (Num 6,24-26). Auf jede Bitte antwortet Musik. Danach folgen in die Stille hinein parallelisierende Segenswünsche aus der Gemeinde. Abschliessend geht der Jazz über ins Ausgangsspiel.