CHANGING PLACES 2015 - Tagungsbericht
Mehr als Swing und Groove: Ein Tagungsbericht
In einer Mischung aus gedanklichem Input, musikalischem und liturgischem Erleben sowie gemeinsamer Reflexion und Diskussion sollte es darum gehen, die Möglichkeiten des Jazz als Kirchenmusik zu erkunden – und zwar vor dem Hintergrund des kirchlichen Wandels, der nicht zuletzt das Praxisfeld der Kirchenmusik betrifft (vgl. Nachwuchsmangel, Imageprobleme, Balance zwischen Tradition und Innovation). Außerdem zielte die Tagung darauf, kirchliche und außerkirchliche Akteuren, die sich für Kirchen als Räume des Jazz interessieren, miteinander zu vernetzen.
Entsprechend war bereits im Vorfeld auf eine bewusste Öffnung über den kirchlichen Bereich hinaus geachtet worden. So waren in die Vorbereitung die beiden freiberuflichen Jazzmusiker Uwe Steinmetz (Berlin) und Daniel Stickan (Lüneburg) eingebunden, die sich seit Jahren für Jazz aus Kirchen einsetzen – zuletzt mit ihrer von der EKD geförderten Veranstaltungsreihe „InSpirit 2014“. Dass sich nun unter den gut 70 Teilnehmenden aus dem gesamten Bundesgebiet neben Kirchenmusiker/innen und Pastor/innen auch freiberuflichen Kulturschaffende fanden, Print- und Radiojournalisten, Hochschuldozenten, Jazzproduzent und Festivalleiter, erwies sich für die Diskussion als äußerst fruchtbar. Ertragreich waren darüber hinaus die Kooperationen mit der niedersächsischen LAG Jazz und mit VISION KIRCHENMUSIK, dem Hildesheimer Modellprojekt für kirchliche Musikvermittlung.
Am Beginn stand die Frage nach dem Proprium des Jazz, mithin nach jenen Merkmalen, die dieses musikalische Genre von anderen unterscheidet. Der Philosoph Daniel M. Feige (Stuttgart) präsentierte darauf eine profilierte, auch theologisch anschlussfähige Antwort. Ihm zufolge ist Jazz „der Name für eine bestimmte Tradition ästhetischen Gelingens“. Und zwar sei damit diejenige musikalische Praxis gemeint, die sich nicht der Treue zu einem komponierten Werk verpflichtet weiß, sondern die ihr Gelingen in ungleich größerem Maße der interaktional gestalteten Improvisation und der sich darin dem Zuhörenden imponierenden Wahrhaftigkeit anheimstellt. Ein weiteres Merkmal sei die „retroaktive Zeitlichkeit“: „Was der ästhetische Sinn des Anfangs einer Improvisation war, zeigt sich immer erst im Lichte ihres Endes.“ Damit räumt sie dem Moment des Unverfügbaren ein besonderes Gewicht ein. Es liegt auf der Hand, dass Jazz in diesem Sinne weniger als Stil denn als Haltung zu verstehen ist – mit erkennbaren Anschlüssen zu religiösen Überzeugungen und liturgischem Handeln. Im Gegenüber zur oft zitierten Einschätzung, im Jazz komme es vor allem auf die Individualität der einzelnen Musiker an, betonte Feige schließlich vielmehr die zentrale Rolle der dialogischen Interaktion.
Der Musikwissenschaftler Raphael D. Thöne, Institutssprecher Jazz-Rock-Pop an der Musikhochschule Hannover, näherte sich sodann der Fragestellung, was denn das Religiöse am Jazz sei, am Beispiel des „Sacred Concerts“ von Duke Ellington (1965) und der Messe „To Hope! A Celebration“ von Dave Brubeck (1979). Während er sich zunächst in einem produktionsästhetischen Ansatz auf die religiöse Einstellung der beiden Komponisten konzentrierte, formulierte er schließlich, dass der Jazz sich im besonderen Maße für ein „Zwiegespräch mit sich selbst“ eigne, das dem Gebet nicht unähnlich ist. Und eben dieses Zwiegespräch könne sich sowohl beim Interpreten als auch beim Hörer ereignen.
Den Inspirationspotentialen, die der Jazz für den Gottesdienst besitzt, widmete sich der Züricher Theologe Matthias Krieg. Auch in seinen – ebenso persönlichen wie kunstvoll arrangierten – Überlegungen spielten Improvisation und Kollegialität als prägende Elemente der Jazz-Praxis eine zentrale Rolle. Daneben betonte er die Lebensweltnähe und die Sinnlichkeit des Jazz: Mit seinen blue notes und offbeats bespielt er die Hinfälligkeit und die Sehnsucht im menschlichen Leben. Zugleich halte er aber auch die „Erinnerung an das große Versprechen des guten Lebens“ wach.
In einem weiteren Schritt ging es um die gegenwärtige gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung des Jazz. Hier gab das Votum von Peter Schulze, Leiter der jazzahead Bremen, die Richtung vor: „den“ Jazz gebe es nicht, vielmehr eine Pluriformität musikalischer Experimente und Stilverbindungen, die sich immer weiter ausdifferenzierten. Für die heutige Situation wurde des Weiteren festgehalten: Die Ausbildungsbedingungen an den Hochschulen sind mittlerweile erstklassig, und anders als etwa im Fach Kirchenmusik gibt es auch eine große Zahl an Absolvent/innen, denen freilich nur eine überschaubare Menge an Anstellungsmöglichkeiten gegenübersteht. Junge Jazzmusiker/innen setzen daher auf kreative Initiativen und zeigen Geschick in Fragen der Selbstvermarktung. In musikalischer Hinsicht kennzeichnet sie oft eine ausgeprägte Lust und Fähigkeit aus, die verschiedensten musikalischen Stile miteinander ins Gespräch zu bringen; es gibt viel weniger Abgrenzungsbemühungen als früher, stattdessen crossover all over the place. Jenseits dessen hat „der Jazz“ freilich ganz ähnliche Probleme wie die klassische Musik, inklusive der klassischen Kirchenmusik: Sein Publikum wird älter, und um jüngere Zuhörende zu gewinnen, bräuchte es viel mehr musikalische Bildungsoffensiven. Beklagt wurde in diesem Zusammenhang die geringe Bedeutung, die dem Musikunterricht etwa in der schulischen Ausbildung vielerorts zukommt.
Schließlich standen die Stellung des Jazz in den gegenwärtigen kirchenmusikalischen Entwicklungen und Umbrüchen und seine Bedeutung für die Kirchenmusik der Zukunft zur Diskussion. Angesichts des Nachwuchsmangels läge es nahe, den kirchenmusikalischen Stellenmarkt auch für Bewerber/innen anderer Studiengänge zu öffnen. Von Modellprojekten wie in der oldenburgischen Landeskirche abgesehen, trifft dies derzeit jedoch (noch) auf einigen Widerstand.
Gerade über die Nähe bzw. Ferne von Jazz und Pop im kirchlichen Raum wurde kontrovers diskutiert. Wird Jazz umstandslos der Popularmusik zugeordnet, droht er als bloße Stilistik missverstanden zu werden. Seine besonderen Potentiale im Sinne einer Musizierhaltung kommen dann zu wenig in den Blick. Auch könnte – so die Einschätzung mancher Jazzverfechter – die Einführung von Popkantoraten die Öffnung der geprägten Kirchenmusik hin zu einer niedrigschwelligen Klangästhetik fördern. Das Gegenargument lautet: Der Jazz sei eine anspruchsvolle, eher konzertant ausgerichtete Kunstform, die ein hohes Abstraktionsvermögen erfordere. Ihre Gemeindetauglichkeit sei daher fraglich. In praktischer Hinsicht waren die partizipativen Potentiale des Jazz bei einem Abendgottesdienst ganz anfänglich erkundet worden. Wie sich Jazz freilich zur laienmusikalischen Schlagseite gegenwärtiger Kirchenmusik verhält, das wäre sicherlich einer der zentralen Punkte, die weiter zu eruieren wären.
Am Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD in Leipzig entsteht seit September ein neuer Arbeitsbereich, der sich u.a. diesen Fragen widmen wird. Für Februar 2017 ist bereits eine internationale Tagung zum Thema Jazz und Liturgie geplant. Die in Loccum begonnene Erkundung geht also weiter – oder um es mit einem der für InSpirit 2014 verwendeten Motti zu sagen: Jazz erst recht!
PD Dr. Julia Koll, Theologin und Studienleiterin an der Ev. Akademie Loccum