BLUE CHURCH 2017 - Tagungsbericht

Improvisation und die Klangfarben des Evangelischen Gottesdienstes standen im Fokus des 21. Liturgiewissenschaftliches Fachgespräch 2017. Ziel war das Kennenlernen von Improvisierter Musik zwischen Jazz, Popularmusik und Neuer Musik in liturgischen Kontexten und das Zusammenführen internationaler Akteure mit dem etablierten Gäste-Kreis des Liturgiewissenschaftlichen Fachgesprächs.

MOTIVATION
Jazz als musikalisches Genre zwischen Popularmusik und Neuer Musik erhält in den letzten Jahrzehnten wieder vermehrt Einzug in Kirchenräume, ob als theologisch inspirierte konzertante Messen wie die des norwegischen Jazzpianisten Tord Gustavsen, in der improvisatorischen Begegnung mit Geistlicher Musik wie in Jan Garbareks Officium oder in der Tradition des Liturgical Jazz zur gottesdienstlichen Gestaltung. Dies korrespondiert mit einer verstärkten Wahrnehmung innerhalb der neueren musiktheologischen Forschung, wie sie insbesondere im angelsächsischen Raum von Prof. Dr. Jeremy Begbie und Prof. Dr. Carol Harrison vertreten wird, in der der musikalischen Sprache des Jazz zentrale Bedeutung beigemessen wird für die Gestaltung und Erschaffung gegenwärtiger Formen geistlicher und liturgischer Musik. Dabei ist neben der Improvisation auch die oral tradierte Semantik des Jazz, die im Gegensatz zur klassisch fixierten Notation immer auf individuellen, momentanen Ausdruck beruht, ein interdisziplinäres Forschungsfeld geworden, in dem u.a. Parallelen zu liturgischen Formen der Alten Kirche im Mittelpunkt stehen.
Ausgehend von der Wahrnehmung des Jazz im kirchlichen/religiösen Kontext werden wir auch grundsätzlicher Klangfarben des Evangelischen Gottesdienstes erkunden und fragen, wie es klingen könnte, wenn wir künftig evangelisch(-lutherisch) Gottesdienst feiern. Neben Grundsatzvorträgen mit internationalen Gästen wie Jeremy Begbie und Carol Harrison werden wir Perspektiven der Praktischen Theologie über die Improvisationstradition im Gottesdienst und Formen und Klangfarben des Liturgical Jazz in Deutschland erkunden. Während unserer Morgenandachten und dem Abschlussgottesdienst wird Jazz in verschiedensten Klangfarben liturgisch wirken, in abendlichen Konzerten wird Jazz als theologische Musik die erzählt, imaginiert und zur Kontemplation über Texte einlädt, praktisch erlebbar.


INSTITUTIONELLE AKADEMISCHE PARTNER UND DEREN VERTRETER
DITA Institut, Duke Divinity School, Durham, NC, USA, Prof. Dr. Jeremy Begbie, Direktor / Musiktheologisches Zentrum des Christ Church College, Oxford University, Prof. Dr. Carol Harrison, Lady Margaret Professor of Divinity /Leiterin des Forschungszweiges der Kirchenmusikabteilung der Hochschule für Musik Göteburg, Johannes Landgren, Prodekan / Jazzabteilung der HFM Dresden, Prof. Finn Wiesner, Dekan und Prof. Esther Kaiser, voc. / Jazzabteilung der HFMM Hannover, Dr. Raphael Thöne, Abteilungssprecher / Kirchenmusikhochschule Tübingen, Patrick Bebelaar, Prorektor / Popakademie Witten, Prof. Hartmut Naumann, Studiengangsleiter Pop und Prorektor der Kirchenmusikhochschule Herford/Witten / Evangelische Akademie Loccum, PD Dr. Julia Koll, Studienleiterin


RESONANZ
Mehr als 100 Anfragen zur Teilnahme im Vorfeld, am Ende schließlich 90 Teilnehmer aus neun Ländern. Tagungssprachen waren Deutsch und Englisch.
Die öffentlichen Gottesdienste und Konzerte der Tagung mit etwa 100 beteiligten Musikern hätten Ausgaben von insgesamt minimal 53.000€ benötigt (Reisekosten, Honorare, Spesen, Technik). Durch den Honorarverzicht aller beteiligter Künstler, individuelles Sponsoring vieler Reisekosten durch Drittmittel aus Gemeinden und Kirchenkreisen, die Beteiligung von Lehrkräften, studentische Solisten und Ensembles aus den Konservatorien Leipzig und Dresden sowie den Musikhochschulen Tübingen, Hannover und Dresden für die drei Uraufführungen wurden diese Kosten substantiell verringert. Ferner halfen reduzierte Kirchenmieten aller Veranstalter und die Bereitstellung eines kostenlosen Konzertflügels durch das Klavierhaus Weber in Dresden. Somit fielen lediglich reale Kosten für die Klaviertransporte, lokale Reisen, Versorgung und Technik vor Ort sowie Hotelübernachtungen an, die im Budget des Fachgesprächs für aktive Teilnehmer grundsätzlich vorgesehen waren. Dafür waren alle Konzerte (bis auf das Dreikönigskirchenkonzert) kostenlos und so mussten keine externe Werbeagenturen, Stiftungen und andere Sponsoren zur Deckung der Kosten bemüht werden. Durch ein fehlendes Werbebudget für die Abendveranstaltungen haben sich keine Vorberichterstattung oder Rezensionen ergeben. Dennoch lässt sich auf insgesamt erfreuliche Besucherzahlen und begeisterte Gäste zurückblicken:


MI Abend Peterskirche:  ca. 120 (überdurchschnittlicher Besuch)
DO Abend Thomaskirche: ca. 100 (durchschnittlicher Besuch)
FR Abend Peterskirche: ca. 150 (überdurchschnittlicher Besuch)
SA Abend Heilandskirche: ca. 250 (max Kapazität mit extra Bestuhlung)
SO Morgen Nikolaikirche: ca. 400 (Überdurchschnittlicher Besuch) UA 3
SO Abend Dreikönigskirche: ca. 100 (Konzertkirche ohne Werbung von außen)
SO Abend American Church Berlin: ca. 310 (max Kapazität mit extra Bestuhlung)


Verlauf: (aus der Pressemeldung der VELKD vom 07.03.2017)
...Improvisation setze profunde Kenntnis von Strukturen und den souveränen Umgang mit diesen voraus, in der Musik ebenso wie in der Liturgie – darin waren sich die Vortragenden einig, die je aus ihrer Perspektive das Verhältnis von Jazz und Theologie, von Improvisation und Liturgie beleuchtet haben.
„Wie kann musikalische Improvisation zu einem tieferen Verständnis vom Wirken des Heiligen Geistes beitragen?“ lautete die Leitfrage von Jeremy Begbies Vortrag „The Holy Spirit as Improviser“. Improvisation beruhe immer auf Zusammenspiel von „constraint and contingency“ (Zwang und Kontingenz), so der englische Theologe und klassische Pianist, und machte dies am Konzertflügel exemplarisch hörbar . Improvisation sei eine „Kunst des Augenblicks“, deren zentrales Element die Überraschung, das Staunen sei und bei deren Ausübung Neues aus dem Wechselspiel von „order, disorder and non-order“ entstehe.
„Jazz-Improvisation stellt eine musikalische Bereicherung unserer liturgischen Praxis dar, die uns inspiriert, über liturgische Haltungen nachzudenken“, sagte Privatdozentin Julia Koll von der Evangelischen Akademie Loccum in ihrem Vortrag „Die rituelle Dynamik des Jazz“.
Auf dem Weg zu einer „gottesdienstlichen Atmosphärenkunde“ fragte sie danach, wie eine dem Jazz entlehnte Haltung das Verhältnis von Handelnden und Beteiligten, von Liturgen und Gemeinde verändere, wie die musiksprachlichen und textlichen Teile im Gottesdienst zusammenhingen und welchen Beitrag Jazz-Gottesdienste für die Zukunft des gottesdienstlichen Lebens leiten könnten.
Auch Hans-Martin Gutmann, emeritierter Professor für Praktische Theologie und Jazzpianist aus Hamburg, fragte nach der „soziokulturellen Bedeutung von Jazz für die Kirche“ und betonte Improvisation und Interaktion als Kernelemente des Jazz. Beim „Doing Jazz“ gehe es nicht um intellektuelle Einsichten, sondern um Intuition. Dabei bestehe aber Improvisation als „heilsame Unterbrechung“ gerade nicht darin, Ordnungen aufzuheben, sondern im Rückgriff auf die Tradition zu gestalten. Mit stetem Bezug zu den Kirchenvätern und zu Martin Luther beschreibt er Jazz als Grenzüberschreitungen in den Kategorien Raum, Zeit und Körper.
Jazz ermöglicht und erfordert „flow und communitas“ im gegenseitigen Aufeinanderhören – diesen Gedanken griff Professor Gotthard Fermor aus Bonn auf. In seinem Beitrag „Die Potenziale des Jazz für eine Theologie der Musik“ vertrat er die These, dass „die musikalischen Strukturen im Jazz religionsproduktiv und religionserzeugend wirken“ können. „Die Musik hat als Musik das Potenzial, über sich hinauszuweisen“, sagte er in seinem religions- und kulturgeschichtlichen Beitrag, der auf eine trinitarische Darstellung einer Theologie der Musik zielte. Ohne theologische Grundlegung gehe es nicht, so Fermor: „Unsere Liturgie wird nur so viel vom religiösen Potenzial des Jazz lernen, wie vorher unsere Theologie davon gelernt hat.“
„Am Prinzip der Improvisation führt kein Weg vorbei“, resümierte Christian Lehnert vom Liturgiewissenschaftlichen Institut als Ergebnis der Tagung. Die Erträge des Fachgesprächs werden in einer Publikation dokumentiert werden, die sowohl die Vorträge als auch Tondokumente enthält.
Uwe Steinmetz, 07.03.2017

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